Rechtslage


§ 70 UrhG (Wissenschaftliche Ausgaben)

  1. Ausgaben urheberrechtlich nicht geschützter Werke oder Texte werden in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Ersten Teils geschützt, wenn sie das Ergebnis wissenschaftlich sichtender Tätigkeit darstellen und sich wesentlich von den bisher bekannten Ausgaben der Werke oder Texte unterscheiden.
  2. Das Recht steht dem Verfasser der Ausgabe zu.
  3. Das Recht erlischt fünfundzwanzig Jahre nach dem Erscheinen der Ausgabe, jedoch bereits fünfundzwanzig Jahre nach der Herstellung, wenn die Ausgabe innerhalb dieser Frist nicht erschienen ist. Die Frist ist nach § 69 zu berechnen.

§ 71 UrhG (Nachgelassene Werke)

  1. Wer ein nicht erschienenes Werk nach Erlöschen des Urheberrechts erlaubterweise erstmals erscheinen lässt oder erstmals öffentlich wiedergibt, hat das ausschließliche Recht, das Werk zu verwerten. Das gleiche gilt für nicht erschienene Werke, die im Geltungsbereich dieses Gesetzes niemals geschützt waren, deren Urheber aber schon länger als siebzig Jahre tot sind. Die §§ 5, 15 bis 24, 26, 27 und 45 bis 63 sind sinngemäß anzuwenden.
  2. Das Recht ist übertragbar.
  3. Das Recht erlischt fünfundzwanzig Jahre nach dem Erscheinen des Werkes oder, wenn seine erste öffentliche Wiedergabe früher erfolgt ist, nach dieser.

§ 70 UrhG - Schutz wissenschaftlich-kritischer Ausgaben

Ein Schutz von Ausgaben (im folgenden ist nur die Rede von Werken der Musik) nach § 70 UrhG kommt dann in Betracht, wenn eine Ausgabe eines ansonsten urheberrechtlich nicht (mehr) geschützten Werkes erstens das Ergebnis wissenschaftlich sichtender Tätigkeit darstellt und sich zweitens wesentlich von bereits bestehenden Ausgaben unterscheidet. Auf dieses Leistungsschutzrecht sind die Vorschriften des 1. Teiles des UrhG (§§ 1 - 69g) in vollem Umfang anwendbar, es ist somit also keineswegs ein im Verhältnis zu den Urheberrechten schwächeres Recht.

Die VG Musikedition hat über die - leider sehr spärliche - Rechtsprechung und Kommentarliteratur hinaus detaillierte Kriterien für die Schutzfähigkeit einer Ausgabe aufgestellt. Danach ist von einer wissenschaftlich sichtenden Tätigkeit in jedem Fall zu sprechen, wenn die Ausgabe aufgrund einer umfangreichen Quellensichtung und -bewertung entstanden ist (wobei alle verfügbaren Quellen genutzt sein sollten), die Quellensituation und Editionsprinzipien sowie Editionsentscheidungen in einem sog. Kritischen Bericht o.Ä. (der selbst gemäß § 2 UrhG geschützt sein kann) offengelegt werden und der Notentext typografisch differenziert ist, also die Herausgeberzusätze kenntlich gemacht werden. Ein wichtiges Indiz, aber keine Voraussetzung, ist auch die Frage, ob die Ausgabe Bestandteil einer wissenschaftlich-kritischen Gesamtausgabe ist. Darüber hinaus kann auch die Rekonstruktion eines nur bruchstückhaft überlieferten Originaltextes nach § 70 UrhG geschützt sein, wenn diese Rekonstruktion nach musikwissenschaftlichen Methoden vorgenommen wurde. In diesem Fall ist jedoch immer zu prüfen, ob nicht sogar ein Schutz nach §§ 2/3 UrhG in Betracht kommt.

Das vom Gesetzgeber vorgeschriebene Kriterium der wesentlichen Unterscheidbarkeit ist auf den ersten Blick unbestimmt, aber auch dafür stehen greifbare Kriterien aus der Praxis zur Verfügung. Eine Ausgabe unterscheidet sich dann wesentlich von anderen Ausgaben, wenn einzelne Unterscheidungen musikalisch-substantiell dingfest zu machen und auch - wie stark auch immer - hörbar sind. Dazu gehören neue Vortragsbezeichnungen, Änderung oder Hinzufügung charakteristischer Noten oder gar Hinzufügung ganzer Takte, zusätzliche authentische Instrumentation, die Eliminierung nicht authentischer Zusätze wie Noten, Vortragsbezeichnungen (Dynamik/Artikulation/Agogik/Tondauer) etc.. Hörbar ist ein Unterschied zwischen zwei Ausgaben in jedem Falle dann, wenn durch bloßes Hören erkennbar wird, nach welcher Ausgabe ein Werk aufgeführt wurde. Es sind aber auch Fälle denkbar, in denen eine Abweichung lediglich optisch wahrnehmbar wird, aber zu musikalisch veränderten Ergebnissen führt und damit - wenn auch auf Umwegen - hörbar und damit schutzfähig wird (Beispiel: Hinzufügung eines authentischen Werktitels, differenziertere Vortragsbezeichnungen, die die Interpretation beeinflussen können etc.). Rein notationstechnische Veränderungen wie etwa erstmalige Partiturausgaben anhand alten Stimmenmaterials, Umschlüsselungen oder Übertragungen aus Tabulaturen etc. (Ausnahme: es handelt sich gleichzeitig auch um das Ergebnis einer wissenschaftlich-kritischen Arbeit) sind nicht als wesentlich anzusehen, ebenso wenig wie das Hinzufügen von Interpretationshinweisen wie etwa die Definition von Verzierungen. Das Ausschreiben eines Generalbasses oder das Erstellen eines Klavierauszuges fallen überhaupt nicht unter § 70 UrhG, sondern sind in der Regel nach §§ 2/3 UrhG geschützt.

Zu beachten ist, dass innerhalb des § 70 UrhG - im Gegensatz zu § 71 UrhG - niemals das Werk als solches, sondern lediglich die Ausgabe eines Werkes geschützt ist. Es steht daher jedem Herausgeber und/oder Verlag frei, unmittelbar nach Erscheinen einer nach § 70 geschützten Ausgabe dasselbe Werk, auch auf der Basis derselben Quellen, neu zu edieren und zu verwerten. Eine andere Frage wäre dann allerdings, ob sich diese neue Ausgabe wesentlich von der vorherigen Ausgabe unterscheidet, ob also ein erneuter Schutz nach § 70 UrhG in Frage käme.

Der Schutz beginnt bereits mit der Herstellung der Ausgabe und erlischt spätestens 25 Jahre nach deren Erscheinen. Dabei kann der Leistungsschutz auch eintreten, wenn der urheberrechtliche Schutz erst nach Erscheinen der Ausgabe endet. Demnach entsteht das Leistungsschutzrecht, wenn sämtliche Schutzvoraussetzungen kumulativ vorliegen, im Falle zunächst bestehenden Urheberschutzes also mit Ablauf des Urheberschutzes. Inhaber des Rechts ist nach dem Gesetzestext der Verfasser, also der Herausgeber der Ausgabe, wobei in der Praxis zu beachten ist, dass Herausgeber oftmals Mitarbeiter eines Editionsinstitutes sind und somit ihre Rechte diesem Institut per Arbeitsvertrag (oftmals auch stillschweigend) eingeräumt haben dürften. Üblicherweise räumt der Inhaber des Rechts es dann einem Verlag zur Nutzung ein, der seinerseits die VG Musikedition mit der Wahrnehmung der entsprechenden Rechte beauftragt.

§ 71 UrhG - Editio Princeps

Eine gänzlich andere Zielsetzung wird mit § 71 UrhG verfolgt, dessen praktische Handhabung insbesondere nach der Novellierung durch das 3. UrhÄndG (basierend auf Art. 4 der EU-Schutzdauer-Richtlinie) mehr verwirrend als klärend wirkt. Ein Werk ist dann 25 Jahre nach Erscheinen geschützt, wenn es erstmals erschienen (z.B. Druckausgabe, Tonträger, Online-Publikation) ist oder erstmals öffentlich wiedergegeben wurde. Hintergrund dieser Vorschrift ist es, eine Art Finderlohn demjenigen zu gewähren, der ein Werk nach detektivischer Kleinarbeit in alten Archiven (oder gar den legendären Dachböden) auffindet und veröffentlicht. 

Die VG Musikedition hat zunächst zu prüfen, ob das angemeldete Werk noch nicht erschienen ist, also noch niemals bspw. in Form einer Druckausgabe oder Online-Publikation (oder als Tonträger) erschienen ist - es darf aber nach dem Wortlaut des Gesetzes durchaus früher schon einmal (nämlich vor dem 1. Juli 1995) aufgeführt worden sein. Auch Faksimile-Wiedergaben sind Druckausgaben, ebenso wie alte Partitur- oder Stimmendrucke (auch ohne Partitur kann ein Werk ja erschienen sein) oder Drucke in alten Notationsformen wie Tabulaturen und Stimmen in Mensuralnotation. Handschriftlich gefertigte alte Aufführungsmateriale sind jedenfalls dann erschienen i.S.v. § 6 Abs. 2 UrhG, wenn diese Materiale in ausreichender Anzahl hergestellt wurden. Das Merkmal des "erstmaligen Erscheinens" ist nicht erfüllt, wenn sich eine Ausgabe eines bekannten und bereits erschienenen Werkes lediglich auf ein neu aufgetauchtes Autograph bezieht. Hier kommt aber ein Schutz nach § 70 UrhG in Betracht. 

Zahlreiche Probleme rechtlicher und tatsächlicher Art birgt die Variante der "erstmaligen öffentlichen Wiedergabe", die auf Grund der Schutzdauerrichtlinie 93/98/EWG durch das 3. UrhÄndG in das UrhG eingefügt wurde und als klare Fehlentscheidung des (europäischen) Gesetzgebers anzusehen ist. Durch eine nach dem 1. Juli 1995 erfolgte simple öffentliche Wiedergabe eines Werkes - beispielsweise auf der Basis eines in einer Bibliothek leicht erreichbaren Autographs - kann nun, auch ohne wissenschaftliche Arbeit, ein dem Erscheinenlassen gleichrangiger Schutz entstehen und so eine weitere wissenschaftliche oder künstlerische Auseinandersetzung mit dem Werk für Jahre blockiert werden. Das Werk darf dann aber nach dem Wortlaut der Vorschrift - im Gegensatz zur Lage bei "erstmaligen Erscheinenlassen" - auch niemals zuvor, auch nicht z.B im 18. Jh., öffentlich aufgeführt worden sein, was nicht immer leicht zu beweisen sein dürfte. Missbräuchen sind hier jedenfalls Tür und Tor geöffnet.

Zu Diskussionen in der Verlagspraxis immer wieder Anlass gibt darüber hinaus auch das Tatbestandsmerkmal "erlaubterweise" in § 71 Abs. 1 UrhG . Damit sollte offensichtlich erreicht werden, dass der Dieb eines Manuskripts anschließend nicht auch noch Leistungsschutzrechte für sich reklamieren darf. Vorgekommen ist folgender Fall: Ein Herausgeber oder ein Verlag besorgt sich zur wissenschaftlichen Arbeit rechtmäßig ein Manuskript bzw. eine Kopie desselben von einer Bibliothek, die anschließende Veröffentlichung jedoch wird von der Bibliothek nicht genehmigt. Legt man den Begriff des "Erlaubtseins" eng aus, so kann ein Schutz nach § 71 UrhG nicht entstehen, folgt man jedoch der überwiegenden Meinung, so ist mangels konkreter Eigentumsverletzung die Nichtgenehmigung durch die Bibliothek jedenfalls im Rahmen des § 71 UrhG nicht relevant. Dem beschriebenen Problem, an das der Gesetzgeber sicher nicht gedacht hatte, ist allerdings nur durch eine sich an der Wortbedeutung orientierende enge Auslegung entgegen zu treten.

Schwierigkeiten bereitet regelmäßig auch die Frage der Rechtsinhaberschaft. Ist im Falle von gedruckten Ausgaben der Verleger oder der Herausgeber Inhaber des Rechtes? Oder, im Falle einer öffentlichen Wiedergabe, sind es die Musiker, der Dirigent oder der Konzertveranstalter? Auch hier bedarf es angesichts des unklaren Gesetzestextes noch einer Klärung. Nach dem Sinn des Gesetzes sollte zunächst aber der Entdecker des Werkmanuskripts mit dem Recht belohnt werden, der es dann natürlich weiter übertragen kann.